Wo sehen Sie im öffentlichen Sektor aktuell noch den größten Handlungsbedarf in Bezug auf digitale Barrierefreiheit – und wie lassen sich diese aktuellen Herausforderungen aus Ihrer Sicht am besten lösen?
Je weiter man von der Bundesebene entfernt ist, desto schwieriger wird das Thema – viele Kommunen fragen an, wie digitale Barrierefreiheit aussieht und was es zu berücksichtigen gilt. Bei vielen ist einfach gar nicht angekommen, dass das geltendes Recht ist und dass sie das als Verwaltung umsetzen müssen. Es hat noch kein Prozess der Benutzer*innenzentrierung stattgefunden – es wäre mein Wunsch, dass Zielgruppen vor Ort mehr einbezogen werden. In der freien Wirtschaft funktioniert das schon aus einem ökonomischen Druck: Barrierefreiheit kann den Umsatz steigern. Die öffentliche Verwaltung hat das Thema noch nicht verstanden, obwohl es Teil ihres Auftrags ist.
Wir müssen Prozesse besser gestalten. Wir müssen die Digitalisierung als Chance sehen!
Alexander WestheideWir müssen dafür mit kommunalen Spitzenverbänden kooperieren, beispielsweise mit dem Deutschen Städtetag und dem Städte- und Gemeindebund. Wir müssen Artikel in Medien platzieren und über Amtsblätter das Thema adressieren. Die Gesetzgebung ist aktuell noch unterhalb der Wahrnehmungsschwelle. Für die Kommunen sind die Anforderungen und Belastungen schon sehr hoch – da fällt die Barrierefreiheit hinten herunter. Gerade aber die Pandemie zeigt doch, wie wichtig die digitale Teilhabe ist. Ohne das Digitale gehen Möglichkeiten der Teilhabe verloren!
Das Benutzer*innenverhalten hat sich aber auch verändert. Die Erwartungshaltung an die Kommunen steigt – auch meine Erwartungshaltung an meine Kommune! Absurderweise gibt es hier schon viele digitale Services, aber eine digitale Beantragung eines Behindertenausweises ist nicht möglich, obwohl das so sinnvoll wäre. Dass genau die Bedürfnisse von mobilitätseingeschränkten Menschen nicht digitalisiert werden, ist natürlich nicht akzeptabel. Menschen, die auf die Digitalisierung angewiesen sind, werden so hintenangestellt. Gerade Querschnittsprozesse über Ämter hinweg sind besonders schwierig, und manche Prozesse – z. B. der Behindertenausweis – sind schon vor der Digitalisierung ein Problem, weil hier keine klare Zuständigkeit vorliegt. Dabei dürfen wir nicht einfach nur Kompetenzen bündeln. Die Arbeitsämter haben ja gezeigt, dass die spezielle Beratung von Menschen mit Behinderung nicht optimal funktioniert hat. Wir müssen Prozesse besser gestalten. Wir müssen die Digitalisierung als Chance sehen!
Die Digitale Barrierefreiheit kostet bestimmt 20 bis 30 % mehr, wobei das vom konkreten Fokus der Anwendung abhängt. Wir müssen sie von vorne herein mitdenken – die richtigen Personen befragen und die richtigen Fragen stellen. Es wird immer günstiger, wenn es von Anfang an richtig gemacht wird. Partizipative Prozesse sind hier sehr wertvoll. Auch eine Gesetzgebung kann besser werden, wenn die richtigen Fragen gestellt werden. Beteiligungsprozesse sollten zum Standard gehören – weil eine Zivilgesellschaft sich sonst zurecht beschwert. Diese Prozesse müssen gesteuert werden: Politik und Verwaltung brauchen Expertise in diesen Teilhabeprozessen – und natürlich muss schon der Beteiligungsprozess barrierefrei sein!
Herr Westheide verantwortet die Themen digitale Services für Engagementvermittlung und Inklusionsmacher*innen bei der Aktion Mensch.
Den Praxisleitfaden erhalten Sie überall dort, wo es gute Bücher gibt
Den Praxisleitfaden erhalten Sie überall dort, wo es gute Bücher gibt. Alternativ können Sie das Buch auch direkt beim Verlag bestellen.