Interview

Philip Knittler

Auf welchen methodischen Grundlagen basiert das Prinzip der Citizen Experience – und wie differenziert es sich von vergleichbaren Konzepten?

Zunächst gilt es, die beiden Begriffe CX (Customer Experience) und UX (User Experience) inhaltlich besser zu verstehen: Während die Customer Experience die gesamte Kundenerfahrung mit allen Kanälen eines Unternehmens und dessen Produkten beschreibt, konzentriert sich die User Experience, als Bestandteil der Customer Experience, auf das positive Nutzungserlebnis über einen einzelnen, meist digitalen Touchpoint wie etwa eine Website oder mobile App.

Behörden oder Ministerien werden – anders als der stationäre Handel – nicht wirklich als erster Touchpoint wahrgenommen.

Philip Knittler
Empfehlungen für die Praxis

Als eine Teilmenge der Customer Experience betrachten wir die Citizen Experience. Sie betrachtet die Gesamtheit der analogen und digitalen Erfahrungen zwischen Bürger*innen und Institutionen aus dem öffentlichen Sektor, wie beispielsweise Bürger- und Standesämter, aber auch Ministerien. Es ist die Art der Interaktion, die die Citizen von der Customer Experience unterscheidet, da es kein kommerzielles Ziel und auch keine Kaufabsicht gibt. Wenn wir von einem Bürger*innenerlebnis sprechen, dann geht es zumeist darum, Informationen zusammenzutragen, zu verstehen und schlussendlich so zu verarbeiten, dass man sich selbst in die Lage versetzt, eine Dienstleistung des Staates in Anspruch zu nehmen. Das können zum Beispiel die Beantragung von Kindergeld oder die Schritte zur Gründung eines Unternehmens sein. Dabei beinhaltet die Citizen Experience, genau wie die Customer Experience, ihre ganz eigene User Experience.

Diesbezüglich können wir feststellen, dass der erste Kontakt zwischen Bürger*innen und dem öffentlichen Sektor zumeist digital entsteht. Behörden oder Ministerien werden – anders als der stationäre Handel – nicht wirklich als erster Touchpoint wahrgenommen. Stattdessen beginnt die Citizen Journey in der Regel mit einer Frage in einer Suchmaschine: Wo erhalte ich Corona-Fördergelder? Welche Reisebeschränkungen gelten momentan? Wie erhalte ich einen neuen Pass? Genau hier kommt die User Experience ins Spiel, die im besten Fall dafür sorgt, dass sich komplexe Themen für Bürger*innen einfach erschließen lassen.

Um für positive Citizen Experience zu sorgen, können praktischerweise viele Modelle und Tools aus der Customer Experience zum Einsatz kommen. Denn Bürger*innen erwarten, dass digitale Erfahrungen mit staatlichen Dienstleistungen ebenso reibungslos verlaufen wie Interaktionen mit kommerziellen Marken.

Methodisch gesehen ergibt es meiner Erfahrung nach am meisten Sinn, sich die Frage zu stellen, welche Aufgabe die Bürger*innen tatsächlich erfüllt haben wollen. Mit dem Jobs to be done-Framework haben wir eines der wichtigsten benutzer*innenzentrierten Werkzeuge. Denn zu selten steht die Frage im Vordergrund, welches konkrete Ziel verfolgt wird und was das eigentliche Anliegen der Bürger*innen ist. Um es bildlicher auszudrücken: Es braucht nicht immer einen Bohrer, sondern manchmal einfach nur ein Loch in der Wand. Das Loch ist das eigentliche Ziel, und dafür ist es zunächst einmal unerheblich, wie das Loch in die Wand gekommen ist. Folglich gilt es, herauszufinden, welchen Job genau die Bürger*innen erledigt haben möchten, wenn sie mit öffentlichen Einrichtungen und Behörden interagieren. Es gilt somit, ihre Bedürfnisse zu identifizieren.

Der Public Sector muss daher lernen, bei der Gestaltung der digitalen Journey für die Bürger*innen vermehrt datenbasierte Entscheidungen zu treffen. Häufig wird noch aus Sicht eines (Ab-)Senders gedacht und kommuniziert. Stattdessen lassen sich auch im Public Sector Daten zu den realen Informationsbedürfnissen der Bürger*innen sammeln, z. B. welche Endgeräte sie nutzen und ob die Inhalte, die vermittelt werden sollen, darüber erschließbar sind? Welche Inhalte werden gesucht und welche nicht? Sind die Inhalte so aufbereitet, dass sie das Informationsbedürfnis der Bürger*innen tatsächlich erfüllen, oder lassen sie sich optimieren, was sich übrigens hervorragend über Tests, z. B. A/B-Testing, ermitteln lässt?

Beim Bundesfinanzministerium, das ich für meinen Arbeitgeber über viele Jahre beraten und begleitet habe, konnten wir beispielsweise über eine Keyword-Analyse herausfinden, dass Erstbesucher*innen die Website vor allem aus einem Grund aufriefen: Sie suchten grundsätzliche Informationen zum Thema Steuern und Steuererklärung. Rein sachlich gesehen, waren sie damit beim Bundesfinanzministerium jedoch am falschen Ort. Korrekt wäre in diesem Fall die zuständige Steuerbehörde bzw. das Finanzamt. Parallel stellten wir fest, dass sich genau diese steuerrechtlichen Fragen auf Portalen wie z. B. GuteFrage.net wiederfinden. Bürger*innen sind also letztlich auf kommerzielle Portale abgewandert, weil die gesuchten Informationen dort für sie leichter zugänglich und verständlicher waren, jedoch nicht unbedingt seriöser. Gerade in der Vertrauenswürdigkeit liegt ein großer Wettbewerbsvorteil bei Akteur*innen aus dem öffentlichen Sektor. Die Lösung war daher naheliegend: Auch wenn das Informationsbedürfnis nicht direkt aufgegriffen werden kann, weil man nicht zuständig ist, gilt es, die Nutzenden abzuholen und an die richtige Stelle weiterzuleiten. In diesem Fall der Verweis auf die Finanzämter.

Fakt ist: Wir sind in Deutschland noch nicht so weit, von einem flächendeckenden E-Government-Angebot sprechen zu können. Das zeigt beispielsweise auch der D21-Digital-Index. In dieser Hinsicht sind uns die baltischen Staaten um einiges voraus, auch wenn man die Situation natürlich nicht eins zu eins vergleichen kann. Das liegt unter anderem daran, dass Deutschland vom Föderalismus geprägt ist. Dieser wirkt in Bezug auf die Digitalisierung hemmend, und gerade die Corona-Pandemie hat uns ziemlich deutlich gezeigt, wo dabei die Probleme liegen. Insofern könnte ein erster sinnvoller Schritt sein, deutschlandweit dieselben Systeme zu nutzen, sodass zumindest technisch gleiche Voraussetzungen geschaffen werden, um Synergien zu nutzen und effizienter in der Entwicklung zu werden. Darüber hinaus sollte es ein weiterer, ganz wesentlicher Schritt sein, dass der Staat sich gegenüber seinen Bürgern und Bürgerinnen als Dienstleister versteht – und auch digital so präsentiert.

Die gute Nachricht ist: Der Wandel im Public Sector ist bereits spürbar. In den von mir bei meinem Arbeitgeber betreuten Ministerien arbeiten wir vermehrt mit Mitarbeiter*innen zusammen, die Expertise in Agilität und Digitalisierung mitbringen und dabei aus der Sicht der Nutzenden – der Bürger*innen – denken. Das ist vor allem deshalb eine gute Entwicklung, weil eine wirkungsvolle Citizen Experience dann entsteht, wenn sie intrinsisch motiviert aus den Institutionen heraus verfolgt wird.

Natürlich funktioniert Citizen Experience nur dann, wenn die Zugänglichkeit sämtlicher Inhalte stets oberste Priorität hat. Barrierefreiheit sollte also keine Pflichtübung darstellen, denn sie geht weit über Sprachbarrieren hinaus. Im Sinn der Gemeinschaft aller Bürger*innen muss sie konsequent umgesetzt werden. Gleiches gilt für die Präsenz der öffentlichen Verwaltung im Alltag der Bürger*innen, die ihnen das Leben erleichtern sollte, um infolgedessen eine positive Beziehung zwischen Staat und Bürger*innen aufzubauen. Letztlich gilt sogar, dass dies kein ausschließlich digitales Thema ist: Auf die Citizen Experience zahlen natürlich auch sämtliche analoge Formen der Kommunikation ein.

Foto von Philip Knittler

Philip Knittler arbeitet als Director Business Design und Digital Strategy bei IBM iX in Berlin. Für den Bereich Public entwickelt er mit seinem Team Digitalstrategien und User-Experience Lösungen. Weitere Schwerpunkte seiner Arbeit bilden die Themenfelder New Work und Digitale Transformation der Arbeitswelt.

Philip Knittler
Director Business Design & Digital Strategy
IBM iX Berlin GmbH

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