Interview

Harald Semler

Welche Schwerpunkte setzt der Hessische Städte- und Gemeindebund im Themenfeld Usability und User Experience (UUX) bei der OZG-Umsetzung?

Da ich aus der echten Welt der Verwaltungspraktiker*innen komme, ist es für mich fraglich, dass sich die in das OZG gesetzten Hoffnungen vollumfänglich in der Praxis erfüllen lassen. Denn bei der Digitalisierung des öffentlichen Sektors geht es zuallererst um Menschen – mit ganz unterschiedlichen Gefühlen, Interessen und Leidenschaften. Wenn sich Initiativen mit dem Ziel einer besseren Bürger*innennähe jedoch primär oder sogar ausschließlich auf die digitale Welt fokussieren, dann bin ich hier sehr skeptisch: Für mich steckt in dem Wort Nähe mehr als eine gute User Experience von digitalen Services – Nähe beinhaltet analoge Berührungspunkte zwischen realen Menschen.

Die Hypothese des OZG, dass Prozesse immer schneller laufen, wenn sie nur endlich digitalisiert werden, trifft nicht auf alle Bereiche zu (...)

Harald Semler
Empfehlungen für die Praxis

Dem technologischen Fortschritt stehe ich offen gegenüber. Ich begrüße ihn sehr, die Digitalisierung in der kommunalen Verwaltung ist eine Zukunftsfrage. Ich glaube jedoch nicht daran, dass sich alle kommunalen Dienstleistungen ähnlich einfach wie die Bestellung in einem Online-Shop digitalisieren lassen. Wer das postuliert, hat nach meiner Ansicht die hohe Komplexität der kommunalen Verwaltungsprozesse im Detail (noch) nicht durchdrungen. Die komplexen und vielfältigen Interaktionspunkte in der kommunalen Verwaltung machen es sehr schwer, dass wie bei einem Kaugummiautomaten auf Knopfdruck unten der richtige Service herausfällt. Die kommunale Verwaltung berät und begleitet die Bürger*innen bei der Erfüllung ihrer individuellen Anliegen und dies lässt sich nur analog und digital leisten.

Für einfachere Sachverhalte gibt es durchaus viel Potenzial zur Automatisierung; aber gerade komplexere Sachverhalte sind kein primär technologisches Problem – daher ist die Menschzentrierung (die das Themenfeld Usability und User Experience ja auszeichnet) so essenziell. Ein Beispiel dafür sind die Prozesse im Bauamt: Wenn ein*e Bauherr*in einen Architekten oder eine Architektin beauftragt, so gibt es hier gravierende qualitative Unterschiede. Die Verfahren der guten und meist auch etwas teureren Architekten und Architektinnen laufen häufig reibungslos durch – alle Unterlagen sind vollständig und von hoher Qualität. Die Bauanträge von anderen Architekten und Architektinnen sind hingegen unvollständig oder qualitativ mangelhaft. Bürger*innennähe bedeutet in dem zweiten Fall für das Bauamt, die Bauherren und Herrinnen mit ins Boot zu holen – und die wahre Ursache für die Verzögerungen (und für die ggf. seitens der Architekten und Architektinnen zusätzlich berechneten Kosten) transparent zu machen. Allen Architekten und Architektinnen ist bekannt, dass unvollständige Unterlagen den Prozess verzögern werden, wissen die Unwissenheit der Bauherren und Herrinnen aber leider manchmal für den eigenen Vorteil zu nutzen.

Was anhand dieses Beispiels deutlich wird: Der digitale Zugang ist zweifelsfrei zeitgemäß; ein elektronischer Bauantrag löst nicht den Kern der Verwaltungsleistung, ist aber eine wichtige Hilfe. Die Hypothese des OZG, dass Prozesse immer schneller laufen, wenn sie nur endlich digitalisiert werden, trifft nicht auf alle Bereiche zu: Die Qualität der Anträge steigt dadurch nicht zwangsläufig, und ob durch eine elektronische Korrespondenz das Ping-Pong z. B. zwischen Bauamt, Bauherr*in und Architekt*in tatsächlich effizienter und effektiver wird als in einem persönlichen Gespräch, sei einmal dahingestellt.

In Hessen gibt es eine Koordinierungsstelle für die Digitalisierung der kommunalen Verwaltung, in welcher der Städte- und Gemeindebund, der Städtetag und der Landkreistag vertreten sind – und bei der direkte Schnittstellen zum Innenministerium und zum Digitalministerium etabliert wurden. Die eingebundenen Akteure ringen gegenwärtig mit großer persönlicher Leidenschaft darum, diese gegenwärtigen Herausforderungen erfolgreich zu bewältigen. Am Ende handelt es sich bei allen im Rahmen der digitalen Transformation entwickelten digitalen Tools um Werkzeuge. Die Computer sind ein Mittel zur Kommunikation zwischen Rathaus und Bürgerschaft. Daher sind die aktuellen Fristen und die damit verbundenen Erwartungen eine große Herausforderung: Unsere Gesellschaft fordert von unseren öffentlichen Verwaltungen einen schnellen technologischen Fortschritt. Der öffentliche Sektor muss dabei gleichzeitig alle Menschen mitnehmen – ohne die dafür in ausreichender Qualität vorhandene Expertise bei menschzentrierter Gestaltung von digitalen Technologien zu vernachlässigen.

Foto von Harald Semler

Harald Semler, Jahrgang 1962, ist Verwaltungsfachwirt. Nach den Stationen Kassenleiter und Büroleiter wurde er 1998 zum Bürgermeister von Bischoffen gewählt. Semler wechselte 2010 auf die Position des hauptamtlichen Stadtrats von Wetzlar. Von 2016 bis 2019 war er Bürgermeister der Stadt Wetzlar. 2019 erfolgte die Wahl zum Geschäftsführer des Hessischen Städte- und Gemeindebundes (HSGB).

Harald Semler
Geschäftsführer
Hessischer Städte- und Gemeindebund e.V.

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