Interview

Samuel Frischknecht

Wie setzen Sie die Prinzipien und Methoden des User Experience Designs in den von Ihnen betreuten Projekten und Lösungen für den öffentlichen Sektor in der Praxis ein?

Wir sind ein Software-Anbieter und so immer einen Schritt entfernt von den Benutzern und Benutzerinnen der Behörden. Insgesamt lässt sich sagen, dass die Digitalisierung im öffentlichen Sektor angekommen ist, aber im Vergleich zur Privatwirtschaft immer noch hinterherhinkt. Viele Projekte sind hier politisch geprägt – es gibt viele Richtlinien und Vorgaben, es gibt viel Skepsis und Druck. Die Tatsache, dass hier Steuergelder im Spiel sind, bringt eine Verantwortung auf beiden Seiten.

Leider scheitert es oft an der Ausschreibung, denn natürlich ist auch der Preis ein Kriterium (...)

Samuel Frischknecht
Empfehlungen für die Praxis

Öffentliche Projekte sind exponiert – und dann sind leider in der Vergangenheit einige medienwirksam gescheitert. Die Auswirkungen merken wir auch in aktuellen Projekten und werden sie auch in zukünftigen Projekten spüren. Die Ausgangslage ist sehr herausfordernd – insbesondere für menschzentrierte Anwendungen. Der klassische Weg im öffentlichen Sektor war lange, dass die Anforderungen vorab definiert werden und dann nach sechs Monaten die fertige Software erwartet wird. Das passt nur schwer zu den Prozessen der menschzentrierten Gestaltung.

Design Thinking - hört man oft - ist aber eher eine Art Baukasten, keine Anleitung, die strikt nach Lehrbuch in jedem Projekt angewendet werden kann; es kommt immer auf das Projektsetting an. Wenn wir von Anfang an dabei sind, arbeiten wir mit Sprints, mit Interviews, mit Prototyping und mit Testen. Aber das müssen wir immer wieder aktiv anbieten, weil noch etwas die Selbstverständlichkeit fehlt und die öffentliche Verwaltung schnell in alte Muster verfällt. Vieles ist somit Steuerung und Projektmanagement.

Leider scheitert es oft an der Ausschreibung, denn natürlich ist auch der Preis ein Kriterium, und manchmal verlieren wir Ausschreibungen, weil wir nicht der günstigste Anbieter sind. Zudem lässt sich ein falsch ausgeschriebenes Projekt später nur schlecht in ein benutzer*innenzentriertes Projekt transformieren. Deswegen sollten sich Behörden für die Ausschreibung externe Hilfe holen und das moderne und menschzentrierte Denken bereits in die Ausschreibung einfließen lassen.

Die späteren Einsparungen und die höhere Benutzer*innenzufriedenheit sind zu Beginn noch nicht absehbar. Deswegen ist für solche Prozesse Mut erforderlich und eine gewisse Offenheit, diesen Weg wirklich gehen zu wollen. Oft hören wir auch, die Behörden würden schon wissen, was die Bürger*innen brauchen und bezweifeln, dass Interviews neue Erkenntnisse hervorbringen. Aber mit Tests von Konzepten und Prototypen können wir schnell zeigen, wie ein Projekt auf einen erfolgreichen Weg gebracht werden kann und für ein positives Klima sorgt – dann wird so ein Projekt schnell zum Selbstläufer, und daraus können dann auch Folgeaufträge entstehen.

Aktuell wird noch stark zwischen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen und Bürgern und Bürgerinnen unterschieden. Aber es ist eine total spannende Frage: Wie sind eigentlich interne Applikationen gestaltet? Schließlich arbeiten die Mitarbeiter*innen jeden Tag acht Stunden damit – hier sollte das Verständnis reformiert werden. Da liegt ein großes Potenzial. Nur weil Mitarbeiter*innen die Software sowieso nutzen müssen, sollte man schlechte User Experience nicht einfach akzeptieren. Schlechte User Experience führt schließlich zu Frustration, geringer Arbeitsmoral und zu sinkender Produktivität. Öffentliche Portale sind oft gebrauchstauglicher gestaltet, aber auch dort ist Luft nach oben, denn es gibt am Ende für einen Bürger oder eine Bürgerin eines Kantons X keine andere Wahl, als über dieses Portal zu gehen. Somit ergibt sich ein doppelter Nachteil für die UUX entlang der gesamten Wertschöpfungskette und der Customer Journey im eGovernment.

Als Unternehmen – und das ist mir sehr wichtig – sind wir in unseren Anwendungen auch spezialisiert auf Barrierefreiheit. Barrierefreiheit muss trotz gesetzlicher Vorgaben noch explizit promoted werden. Wir haben hier in der Schweiz – anders als z. B. in den USA oder Norwegen – praktisch keine Sanktionen, wenn Barrierefreiheit nicht eingehalten wird. Aber ich würde auch behaupten, dass es insgesamt noch viele falsche Annahmen und Vorstellungen gibt, wenn es um Barrierefreiheit geht. So zum Beispiel, dass die Umsetzung viel aufwändiger ist, was in Wirklichkeit nicht so ist. Und: Von einfacher Sprache, logisch aufgebauter Informationsarchitektur, von ordentlichen Kontrasten und von optimierten PDFs profitieren alle!

Ich empfehle den Behörden erstens mehr Offenheit gegenüber neuen Technologien und Projektvorgehen. Sie sollten es wagen, Neues auszuprobieren, wie agile Methoden, Endbenutzer*innen in die Spezifikationsphase einbeziehen und aktiv Feedback einfordern, Usability-Tests, Performance messen und auswerten. Zweitens sollten sich Behörden intensiver mit den Bedürfnissen der Bevölkerung auseinandersetzen. Der Fortschritt ist aus meiner Sicht verzögert, weil es keinen Wettbewerb gibt wie in der Privatwirtschaft. Politik kann hier etwas tun und gute Beispiele auszeichnen und generell Förderung betreiben.

Foto von Samuel Frischknecht

Als Verantwortlicher für die User Experience in Kundenprojekten setzt er sich für Kunden-zentriertes Vorgehen und Accessibility ein. Dabei liegt ein Fokus auf der nahtlosen Integration von Human Centered Design (HCD) in Software-Projekten an der Nahtstelle von Fach-Anforderungen und Technologie.

Samuel Frischknecht
Head User Experience
AdNovum Informatik AG

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