Interview

Johannes Rosenboom

Wie können die in der öffentlichen Verwaltung inzwischen regelmäßig praktizierten Design Thinking Workshops zu einer nachhaltigen Veränderung der deutschen Verwaltungskultur führen?

Es ist die Frage, ob Design Thinking allein das dicke Brett der notwendigen digitalen Transformation der öffentlichen Verwaltung bohren kann. Verwaltung kann sich nicht beliebig aus sich heraus verändern. Verwaltungshandeln muss sich selbstverständlich nach den Vorgaben der Gesetzgebung richten. Initiativen einer umfassenden Veränderung müssen immer über die politische Willensbildung erfolgen – beispielsweise über den IT-Planungsrat. Aber natürlich kann Design Thinking dabei eine hilfreiche und effektive Methode sein. Unstrittig ist: Wir brauchen insgesamt mehr Elemente agiler Vorgehensweisen – nicht nur in der Umsetzung von IT-Projekten in der Verwaltung, sondern auch bei Verwaltungsprozessen und organisatorischen Fragen. Weitere Methoden, die je nach Anforderung und Ausgangslage auch weiterhin ihre Berechtigung haben, sind das klassische Wasserfallmodell oder das V-Modell XT. Es kommt also auf die situations- und bedarfsgerechte Methodenauswahl an.

Die öffentliche Verwaltung sollte aber auch keine Softwarelösungen im größeren Stil selbst entwickeln.

Johannes Rosenboom
Empfehlungen für die Praxis

Das Onlinezugangsgesetz, kurz OZG, verändert die Verwaltungswirklichkeit erheblich, indem der Gesetzgeber der Verwaltung eine Frist vorgegeben hat, flächendeckend mehr digitale Services anzubieten. Das OZG fungiert als Treiber der Digitalisierung und Veränderung und das durchaus gebietskörperschaftsübergreifend. Außerdem sehen wir eine veränderte Erwartungshaltung der Bürger*innen, was Erreichbarkeiten, Gebrauchstauglichkeit (Usability) und Schnelligkeit bei der Bereitstellung staatlicher Verwaltungsleistungen angeht. Das setzt starre Vorgehensmodelle unter Druck. Agile Methoden können dabei helfen, Prozesse und die Entwicklung neuer Services zu beschleunigen. Sie haben aber auch ihre Grenzen, denn Verwaltung kann nicht – wie die Privatwirtschaft – beliebig experimentieren, da wir hier zum einen über den erwähnten gesetzlichen Rahmen und zum anderen über Steuergelder reden. Die öffentliche Verwaltung muss die föderative Aufgabenhoheit, gesetzliche Vorgaben wie z. B. Datenschutz u. v. a. m. berücksichtigen. Diese Rahmenbedingungen treiben die Komplexität bei der Umsetzung der Vorhaben bzw. stehen zum Teil im Spannungsfeld zueinander, was eine flächendeckende, durchgängige Digitalisierung von Verwaltungsprozessen betrifft.

Wenn wir Digitalisierung im OZG-Kontext ernst nehmen, müssen wir nicht nur über User Experience, Usability und einen anwenderzentrierten Blick nachdenken, sondern auch einen Blick in die internen Verwaltungsabläufe werfen. Digitalisierung ist wesentlich mehr als eine Übersetzung der klassischen Papier-Formulare aus einer analogen in eine digitale Welt. Digitale Prozesse müssen auch analoge Prozesse beeinflussen und ggf. eine Notwendigkeit der Überarbeitung dieser analogen Prozesse erwirken. Wir müssen zum Beispiel überlegen: Ist die Schriftformerfordernis wirklich immer sinnvoll? Brauchen wir jeden Vorgang aus der analogen Verwaltungswelt in der digitalen Umsetzung noch? Die bestehenden Geschäftsprozessordnungen sollten überarbeitet werden. Wollen wir deren Vorgaben in allen Ausprägungen in die digitale Welt überführen, oder stellen sie häufig nicht ein Hemmnis für durchgängige, agile Prozesse dar?

Die öffentliche Verwaltung sollte aber auch keine Softwarelösungen im größeren Stil selbst entwickeln. Es geht eher darum, die geforderten Standards und Architekturen deutlich zu beschreiben. Was sind die Anforderungen bei Themen wie zum Beispiel Technologieoffenheit, IT-Sicherheit, Datenschutz, Barrierefreiheit und User Experience? An diesen Vorgaben müssen sich alle vom Markt bereitgestellten Lösungen messen lassen. Dann können in der Folge durchaus auch mehrere Lösungen zugelassen werden und um den besten Weg und die höchste Akzeptanz konkurrieren. Aktuell ist es eher so, dass wir beim OZG sehr, sehr enge Vorgaben haben, die die jeweiligen federführenden Umsetzungsbehörden und Anbieter in ein recht enges Korsett pressen, wo für Innovationen und Agilität wenig Raum bleibt. Stattdessen werden Lösungen häufig dahingehend verbogen, dass lieber sämtlichen Vorschriften und förderfähigen Regelungen entsprochen wird, als eine wirklich benutzer*innenorientierte, durchgängig funktionierende Lösung aufzubauen. Ziel ist bei vielen staatlichen Leistungen künftig eine antragslose Abwicklung – die sogenannte non stop government agency. Klassisches Beispiel ist die Lebenslage Geburt eines Kindes: von der Erstellung der Geburtsurkunde bis hin zur Auszahlung des Kindergeldes ein durchgängig automatisierter, zum Teil proaktiver Prozess. Und kein Gang der Eltern zu verschiedenen Behörden mit jeweils einer Menge unterschiedlicher Formulare. In solchen Szenarien spielen Agilität und Usability eine entscheidende Rolle.

Der IT-Planungsrat ist das Gremium, das u. a. über Standards diskutiert. Darin sitzen allerdings nur Bund und Länder und keine Kommunen, obwohl sie zwei Drittel der Verwaltungskontakte zu Bürger*innen tragen – sprich die tatsächliche Hauptlast der Schnittstelle zum Bürger und Unternehmen. Aktuell hat der IT-Planungsrat nicht die Durchsetzungskraft, Standards zu definieren und zu verabschieden. Beim OZG ist der kleinste gemeinsame Nenner das föderale Informationsmanagement (kurz: FIM) – ein notwendiger, aber leider nicht ausreichender Schritt.

Aber: Vieles hat sich getan. Vor allem der Gesetzgeber hat die Notwendigkeit erkannt, die digitale Transformation der Verwaltung durch die entsprechende Gesetzgebung zu beschleunigen. Neben dem OZG ist auch das Registermodernisierungsgesetz ein weiteres Beispiel für gesetzliche Treiber. Bei der Registermodernisierung steht das Once Only Prinzip im Mittelpunkt. Bürger*innen sollen auf Dauer ihre unveränderlichen Stammdaten nicht mehr redundant und mehrfach bei der Verwaltung angeben müssen, sondern die entsprechenden Fachverfahrens-Prozesse greifen im Hintergrund auf diese Daten zu. Auch die Verpflichtung der Verwaltung, die 575 OZG-Services bis Ende 2022 online anzubieten, hat der digitalen Transformation einen immensen Schub verliehen. Der Transformationsprozess ist damit aber nicht abgeschlossen, es sind viele weitere Schritte vor allem auch in der Verwaltung selbst erforderlich. Schließlich haben Bürger*innen Rechte und erwarten von einer leistungsfähigen öffentlichen Verwaltung mehr Agilität und bessere Usability.

Foto von Johannes Rosenboom

Johannes Rosenboom ist seit 2016 bei Materna im Geschäftsbereich Public Sector als Vice President tätig und verantwortet dort Vertrieb, strategische Geschäftsfeld- und Organisationsentwicklung, Portfolio-Management und Marketing.

Johannes Rosenboom
Vice President Sales, Marketing und Business Development
Materna Information & Communications SE

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