Interview

Michael Rederer

Welche Erfahrungen konnten Sie in der Stadt Wien im Rahmen einer partizipativen Einbindung von interessierten Bürger*innen in konkreten Digitalisierungsprojekten sammeln?

Die Einbindung der Bürgerinnen und Bürger wird bei der Stadt Wien ja schon länger praktiziert – und auch das Projekt zur digitalen Test-Community verlief erfreulich unkompliziert. Während meiner langjährigen Tätigkeit ist dieser Wunsch nach mehr Bürger*innenkontakt immer wieder an verschiedenen Stellen aufgetaucht. Inzwischen präsentieren sich ja praktisch alle Behörden als besonders bürger*innenzentriert. Spannend ist daher aus meiner Sicht, ob diese Prinzipien im Behördenalltag auch konkret gelebt werden. Handelt es sich primär um Lippenbekenntnisse und findet letztendlich nur ab und zu eine kleinere Fokusgruppe statt? Sicherlich können Fokusgruppen ein guter Einstieg sein; doch wenn man Menschen einfach nur nach neuen Ideen fragt, ergeben sich daraus leider nur recht selten wirklich innovative Dinge. Das liegt dabei nicht daran, dass die Bürger*innen keine guten Ideen haben! Aber wenn wir uns als Team intensiv mit einem Thema beschäftigen, dann kennen wir diese Ideen in der Regel bereits.

Lassen wir doch die Bürger*innen entscheiden.

Michael Rederer
Empfehlungen für die Praxis

Unser Verständnis eines bürger*innenzentrierten Ansatzes geht daher deutlich weiter: So werten wir beispielsweise auch die Suchanfragen der Bürger*innen auf unserer Webseite systematisch aus. Diese systematische Auswertung war auch eine wichtige Grundlage für die bürger*innenzentrierte Entwicklung unseres Chatbots, der inzwischen 90 Prozent der Fragen korrekt beantworten kann. Auch die Zugriffsstatistiken und das Bürger*innenfeedback aus dem Parteienverkehr sind für uns ganz wichtige Informationsquellen – auch diese Informationen werten wir systematisch aus.

Der Bedarf für eine weitere Form der partizipativen Einbindung der Bürger*innen ergab sich bei uns in Wien aus einer anderen Beobachtung: Neue Ideen werden bei uns intern mit einem interdisziplinären und kompetenten Team erarbeitet und diskutiert. In diesem Team arbeiten Expert*innen aus dem Design, der Entwicklung, dem Marketing – und alle haben eine starke Meinung. Doch trotzdem gelingt es uns nicht auf Anhieb, beispielsweise in Bezug auf die richtige Standardschriftgröße einen Konsens zu finden. Spätestens da wurde uns bewusst: Wir müssen diejenigen stärker involvieren, die von dieser Entscheidung am Ende betroffen sind. Das Testen mit kleinen Stichproben (beispielsweise ein Usability-Test mit zehn Bürger*innen) ist bei derart weitreichenden Entscheidungen dabei nicht länger ausreichend. Aufgrund dieses Bedarfs haben wir seit Oktober 2019 für diesen Zweck unsere eigene Test-Community aufgebaut; inzwischen besteht diese aus über 1.000 Bürger*innen. Die Bereitschaft zur Beteiligung ist überwältigend; wir führen ungefähr zehn Tests pro Jahr durch – und bei jedem Test beteiligen sich mehr als 50 % der Bürger*innen.

Diese Test-Community leistet dabei einen ganz wertvollen Beitrag zur quantitativen Einschätzung und Bewertung unserer Designentscheidungen. Über offene Fragen generieren wir zusätzlich eine Vielzahl von neuen Ideen und erhalten häufig sehr wertvolles Feedback. Statt sehr zermürbenden Diskussionen um (nicht) recht haben sagen wir in der Stadt Wien jetzt häufiger: Lassen wir doch die Bürger*innen entscheiden.

In Zukunft wäre es durchaus denkbar, hier noch deutlich umfangreichere Informationen zu den Bürger*innen zu erfassen. Aktuell verzichten wir aus Erwägungen des Datenschutzes darauf – wir wissen also nicht genau, wer sich in unserer Test-Community befindet. Wir wissen nicht, ob wir alle Perspektiven gleichmäßig abbilden. Trotzdem hat dieser Ansatz bereits jetzt deutlich zur Professionalisierung unserer Entscheidungen im Themenfeld Usability und User Experience beigetragen. Bei unserem ersten Projekt, der Frage der richtigen Schriftgröße, war übrigens auch unter den eingebundenen Bürger*innen das Spektrum an Rückmeldungen recht breit – es gab auch hier zunächst keine eindeutige Aussage. Wir haben uns dann am Ende auf Basis der erhobenen Daten für die Schriftgröße entschieden, die für die größtmögliche Bandbreite an Bürger*innen auf Anhieb problemlos lesbar ist.

Foto von Michael Rederer

Michael Rederer arbeitet seit 2001 im Presse- und Informationsdienst der Stadt Wien. Seit 2004 leitet er das Team hinter wien.gv.at. Inhaltlicher Schwerpunkt seiner Arbeit ist die Entwicklung neuer Formate, Produkte und Guidelines.

Michael Rederer
Fachbereichsleiter Digitales Content Management und Produktentwicklung
Presse- und Informationsdienst Stadt Wien

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