Interview

Blerim Haziri

Welche Paradigmen, Methoden und Prozesse im Themenfeld Usability und User Experience sind nach Ihrer Erfahrung für die öffentliche Verwaltung von besonderer Bedeutung?

Wir erleben im Moment sehr intensiv, dass Akteure des öffentlichen Sektors mehr und mehr von menschzentrierter Gestaltung profitieren. Viele der Aktivitäten im Themenfeld User Experience sind dabei im Moment Aktivitäten, die von den Behörden in den Ausschreibungen gar nicht explizit verlangt wurden. Die Erwartungen in diesem Themenkomplex sind teilweise noch zu vage, um daraus eindeutige Verpflichtungen für die Dienstleister ableiten zu können. Das führt für Dienstleister mit einer hohen UUX-Reife zu vielfältigen Herausforderungen: Der Zuschlag an einen Dienstleister mit UUX-Expertise ist im Moment für die öffentliche Verwaltung ein Glückspiel mit einer ungünstigen Ausgangslage: Fokussiert sich die Ausschreibung primär auf eine technologische Perspektive, dann sind diese Dienstleister aufgrund der höheren Kosten häufig unterlegen – sie bieten letztlich einen nicht explizit geforderten Mehrwert. In der Logik der öffentlichen Vergabe ist das bekanntlich leider von Nachteil.

In der ersten Stufe steht dabei eine fundierte, menschzentrierte Problemanalyse mithilfe der UUX-Methoden, Paradigmen und Prozesse im Fokus.

Blerim Haziri
Empfehlungen für die Praxis

In unseren bisherigen Projekten für den öffentlichen Sektor haben wir gute Erfahrungen mit einem zweistufigen Ansatz gesammelt: In der ersten Stufe steht dabei eine fundierte, menschzentrierte Problemanalyse mithilfe der UUX-Methoden, Paradigmen und Prozesse im Fokus. Dieses Verständnis der Nutzungsanforderungen ist ausschlaggebend, um dann in der zweiten Stufe die technologische Umsetzung adressieren zu können. Dies ist ein praxistauglicher Workaround, solange die Metriken und Prozesse der Bewertung von Angeboten nicht vollständig kompatibel zu unseren menschzentrierten, iterativen und agilen Methodiken sind. Die Kompetenzen und Funktionalitäten werden häufig checklistenartig abgeprüft, anstatt die konkreten, fachlichen und stark problembedingten Abhängigkeiten klar herauszuarbeiten. Im Moment sind die Themen menschzentriertes Design und Barrierefreiheit im besten Fall einfach zwei Aspekte auf einer langen Liste.

Manche Behörden setzen aus dem historischen Kontext heraus das Themenfeld User Experience Design nach wie vor noch mit visuellem Design gleich. Eine gute Möglichkeit, um Behörden schrittweise mit dem Themenfeld im Detail vertraut zu machen, sind nach unserer Erfahrung gemeinsame Workshops. Auch diese Workshops laufen bei uns häufig in zwei Phasen ab: In der ersten Phase analysieren wir gemeinsam den Sachverhalt – und identifizieren im Zuge dessen, wer für die Beantwortung der wichtigsten Fragestellungen alles mit im Boot sein sollte. Erst in der zweiten Phase setzen wir uns dann – gemeinsam mit den richtigen Experten und Expertinnen – mit den eigentlichen Fragestellungen selbst im Detail auseinander. In der Praxis ist es dabei ein großer Vorteil, sowohl den Themenkomplex Usability und User Experience als auch den Themenkomplex Barrierefreiheit und Zugänglichkeit von Anfang an zu berücksichtigen. Nur eine frühzeitige Integration dieser unterschiedlichen Perspektiven in der Anforderungsphase sorgt für eine gute Kostentransparenz in der späteren Umsetzungsphase.

Für uns sind im Bereich der Barrierefreiheit dabei insbesondere die entsprechenden Zertifizierungen – sowohl der Lösungen als auch der Mitarbeiter*innen – ein wichtiges Qualitätssiegel. Da es allein in Deutschland gut sieben Millionen Menschen gibt, die auf digitale Barrierefreiheit angewiesen sind, ist das Thema sowohl im öffentlichen Sektor als auch in der Privatwirtschaft absolut unverzichtbar. Wir verwenden dabei auch viele verschiedene Tools, die uns ein automatisiertes Testen, insbesondere der mobilen Anwendungen, ermöglichen. So können wir Barrieren frühzeitig und systematisch erkennen und zeitnah beheben. Wir empfehlen Behörden, für echte Barrierefreiheit zu sorgen – statt den gesetzlichen Verpflichtungen durch die Bereitstellung einer Erklärung zur Barrierefreiheit mit einer umfassenden Liste an Defiziten gerecht zu werden.

Unsere Vision ist, dass im Rahmen der Digitalisierung die digitale Umsetzung nicht mehr länger als Ergebnis eines langen, im Idealfall menschzentrierten Prozesses betrachtet wird. Denn die Umsetzung selbst, insbesondere das MVP, ist gleichzeitig auch immer ein Baustein entlang eines langen Weges – ein MVP hilft uns in der Praxis immer dann, wenn wir noch nicht alle Probleme im Detail durchdrungen haben. Das ist bei komplexen Problemen stets der Fall, denn spätestens im Rahmen der Umsetzung entstehen fortwährend neue Probleme. Der Paradigmenwechsel der öffentlichen Verwaltung hat also noch eine zweite Dimension: Behörden sollten sich nicht zu früh auf die Erstellung der finalen Ausbaustufe versteifen. Denn erst das MVP zeigt in der Praxis, welche Funktionen in dieser finalen Ausbaustufe tatsächlich benötigt werden. Jedes UUX-Projekt mit dem öffentlichen Sektor bringt uns im Idealfall in Bezug auf diesen Paradigmenwechsel etwas weiter voran – diese Projekte sind immer auch Hilfe zur Selbsthilfe und führen dadurch schrittweise zu einem Enablement der Behörden.

Foto von Blerim Haziri

Blerim Haziri leitet ein Competence Center mit dem Schwerpunkt Entwicklung bei adesso mobile. Über die Jahre hat er sehr viele Entwicklungsthemen angetrieben und zahlreiche Web- und Mobile-Projekte unterstützt.

Blerim Haziri
Leiter Competence Center DEV
adesso mobile solutions GmbH

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