Interview

Michael Wahl

Zu welchen praktischen Konsequenzen führt die Verpflichtung zu digitaler Barrierefreiheit aus Sicht der Überwachungsstelle des Bundes für Barrierefreiheit von Informationstechnik?

Obwohl die entsprechenden Verordnungen bereits sehr lange existieren, erleben wir, dass das Thema digitale Barrierefreiheit in der öffentlichen Verwaltung erst jetzt so langsam an Fahrt gewinnt. Die wachsende Sensibilisierung zeigt sich daran, dass wir einerseits vermehrt initiative Anfragen zu Prüfungen und Beratungen bekommen und andererseits Barrierefreiheit mehr und mehr zur Chefsache wird – wir erhalten vermehrt auch Anfragen seitens der Verantwortlichen in den Bundesministerien. Diese wachsende Sensibilisierung betrifft dabei nicht nur die IT-Beauftragten, sondern gleichermaßen auch die Redaktionen und Dienstleister. Bei unseren Prüfungen fällt dabei ganz konkret auf: Das, was wir im Moment noch am Häufigsten bemängeln müssen, ist die fehlende Erklärung zur Barrierefreiheit.

Statt Prozesse zu blockieren und Verwaltungsabläufe zu stoppen, ist ein pragmatischer Weg stets erfolgsversprechender.

Michael Wahl
Empfehlungen für die Praxis

Eine große Herausforderung ist für Behörden dabei die große Bandbreite an Einschränkungen. Gerade bei der pandemiebedingten dynamischen Digitalisierung war diese Bandbreite besonders herausfordernd: Allzu schnell wird bei Tools für Videokonferenzen die Integrierbarkeit von Gebärdendolmetschern nicht berücksichtigt, wird bei Apps zur Kontaktnachverfolgung nicht an blinde Mitbürger*innen gedacht, wird bei Webseiten der öffentlichen Verwaltung nicht an Menschen mit Lernschwierigkeiten oder Sprachbehinderungen gedacht oder können Kinder mit Beeinträchtigungen die Tools für das Homeschooling nicht verwenden. Menschen mit Einschränkungen sind daher nach wie vor in der digitalen Welt regelmäßig auf Unterstützung angewiesen – das beginnt schon bei der Online-Reservierung eines Impftermins. Hier besteht dringender Handlungsbedarf – zumal die Digitalisierung ganz grundsätzlich große Chancen für eine bessere Zugänglichkeit von Dienstleistungen der öffentlichen Verwaltung bietet.

Beim Datenschutz, einem im Vergleich zur Barrierefreiheit deutlich weniger komplexen Thema, hat es bis zur flächendeckenden Sensibilisierung ebenfalls sehr lange gedauert. Die digitale Barrierefreiheit spielt in vielen Überlegungen noch keine Rolle, obwohl offiziell 10 bis 11% der Bevölkerung in Deutschland von Beeinträchtigungen betroffen sind – inoffizielle Untersuchungen, die den Begriff der Behinderung weiter auslegen, gehen sogar von 17 bis 18% aus. Beim Datenschutz haben letztlich die Sanktionen, die schlichte Tatsache, dass Verstöße irgendwann Geld kosten, deutlich Bewegung in das Thema gebracht. Diese Dynamik fehlt bei der Barrierefreiheit aktuell; wobei wir grundsätzlich davon ausgehen sollten, dass wir auch ohne Sanktionen auf ein rechtskonformes Handeln des Staates hinwirken können. Mit dem Barrierefreiheitsstärkungsgesetz wird sich das Thema weiter entwickeln; spätestens, wenn die Marktaufsicht nach mehreren Mahnungen digitale Produkte dann auch vom Markt nehmen kann.

Erschwert werden die Maßnahmen jedoch im Moment auch durch den Umstand, dass es in den öffentlichen Verwaltungen nach wie vor noch zu wenige Experten und Expertinnen in dem Themenfeld gibt; Hochschulen müssen das Thema zukünftig in der Ausbildung stärker adressieren und für das Thema sensibilisieren. Diese Sensibilisierung kann im Idealfall auch bereits in der Schule beginnen. Denn digitale Barrierefreiheit ist – im Vergleich zu physischer Barrierefreiheit – für Menschen ohne Einschränkungen auf den ersten Blick in der Regel unsichtbar.

Meine Vision ist, dass wir die digitale Barrierefreiheit zukünftig von Anfang an mitdenken. In vielen Bereichen ist hier noch viel Luft nach oben. Doch bis es soweit ist, ist es auch wichtig, keine radikale Blockadehaltung einzunehmen. Das ist auch unser regelmäßiger Appell im Dialog mit den Schwerbehindertenvertretungen: Statt Prozesse zu blockieren und Verwaltungsabläufe zu stoppen, ist ein pragmatischer Weg stets erfolgsversprechender. Wenn Schwerbehindertenvertretungen den konkreten Anlass nutzen und das Thema gemeinsam mit den Vergabestellen auf strategischer Ebene adressieren, dann lässt sich innerhalb der jeweiligen Behörde mit vereinten Kräften ein nachhaltiger Weg zu digitaler Barrierefreiheit erarbeiten. Für den konkreten Fall muss dabei natürlich gleichzeitig eine für alle Beteiligten tragfähige Übergangslösung gefunden werden; die Entwicklung von temporären Sonderlösungen lässt sich häufig nicht vermeiden. Der Aspekt des Dialoges mit den Menschen mit Beeinträchtigungen selbst im Sinne ihrer Bedarfe wird spätestens mit der WCAG 3.0 noch weiter an Bedeutung gewinnen, wo nach dem aktuellen Planungsstand auch die verschiedenen Benutzer*innengruppen in den Dialog integriert werden sollen.

Und: Wir sollten auch sprachlich umdenken. Wir sollten dem in der DIN EN ISO 9241-171 verwendeten Konzept der Zugänglichkeit im fachlichen Diskurs mehr Raum geben, anstatt uns durch Verwendung des Begriffs der Barrierefreiheit (wie ihn beispielsweise die DIN EN 301 549 verwendet) primär auf die Behebung von Fehlern zu beschränken. Zugänglichkeit stellt den Aspekt einer zentralen Selbstverständlichkeit in den Fokus; der Selbstverständlichkeit, dass die digitale Welt durch alle Menschen, unabhängig von deren individueller Beeinträchtigung, gleichberechtigt zur Kommunikation und Information genutzt werden kann.

Foto von Michael Wahl

Digitale Barrierefreiheit begleitet mich beruflich sowie als Blinder auch privat. Daher bin ich meinem Job sehr verbunden, aber auch froh, wenn der Rechner einmal aus ist. Dann spiele ich gerne Tennis und erkunde fremde Länder, höre Jazz und übe mich im Kochen.

Michael Wahl
Leiter
Überwachungsstelle des Bundes für Barrierefreiheit von Informationstechnik

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