Interview

Thorsten Bullerdiek

Was ist erforderlich, damit die im Rahmen des OZG definierten Prinzipien (insbesondere: Einfache und intuitive Nutzung) auch auf kommunaler Ebene ihre volle Wirksamkeit entfalten können?

Das größte Defizit des OZG ist nach meiner Wahrnehmung die fehlende Alltagstauglichkeit. Überspitzt formuliert behaupte ich: Ein OZG brauche ich als ganz normaler Bürger aktuell nicht. Statt 575 Leistungen nun digital anzubieten, müsste sich die öffentliche Verwaltung intensiver damit auseinandersetzen, an welcher Stelle die Bürgerinnen und Bürger überhaupt abgeholt werden müssen. Wenn die bereits vor vielen Jahren geschaffenen technologischen Grundlagen, wie beispielsweise der elektronische Personalausweis, nicht in echten Anwendungen resultieren, dann bleiben diese Technologien für die Bürger*innen vollkommen wertlos. Am Ende ist aus Sicht der Bürger*innen nur der praktische Nutzen entscheidend – und daran muss dann auch der Erfolg des OZG gemessen werden.

Unser Staat sollte sich auf die Kerninfrastruktur fokussieren und die Marktwirtschaft überall dort wirken lassen, wo es sinnvoll ist.

Thorsten Bullerdiek
Empfehlungen für die Praxis

Anstatt sehr viele Leistungen bis 2022 parallel zu digitalisieren, wäre es aus meiner Sicht sinnvoller gewesen, sich zunächst auf fünf bis zehn zentrale Services im Themenfeld Leben und Gesundheit zu fokussieren. Diese Themen interessieren alle Menschen! Wenn öffentliche Verwaltungen nun beispielsweise einen Online-Antrag für das Flaggenzertifikat von Yachten oder Onlineantragsformulare allen Ernstes als großen Durchbruch feiern, dann machen wir uns damit ziemlich lächerlich. Unser Staat sollte sich auf die Kerninfrastruktur fokussieren und die Marktwirtschaft überall dort wirken lassen, wo es sinnvoll ist. Das bedeutet, den Markt auch in der digitalen Welt wieder stärker ins Boot zu holen. Ein Prinzip wie EfA (Einer für Alle) sehe ich daher kritisch – dieses Prinzip führt uns in eine Welt der Monopole. Solche Monopole gibt es bereits, beispielsweise das Fachverfahren AutiSta, das in deutschen Standesämtern flächendeckend zum Einsatz kommt. Die öffentliche Verwaltung muss mehr für gute Infrastruktur sorgen und gleiche Bedingungen für alle Anbieter schaffen, sodass auch Alternativlösungen zukünftig eine echte Chance haben. Verwaltungen müssen dafür ihre Daten stets problemlos von einem Anbieter zum anderen migrieren können. Der Staat sollte auch in der digitalen Welt der einzige Monopolist bleiben – neben einem staatlichen Monopolisten und dem privatwirtschaftlichen Markt sehe ich weder Platz noch Bedarf für weitere Monopolisten.

Mich überrascht es nicht sonderlich, wenn trotz der bereits im Jahr 2015 begonnenen Initiativen und Aktivitäten Ende 2022 viele Ideen des OZG noch nicht umgesetzt sein werden. Aber ärgerlich und leider noch superteuer für die Steuerzahler*innen ist es trotzdem! Denn das OZG hat den Themenkomplex Digitalisierung ja ohnehin schon stark verkürzt, um ihn für den öffentlichen Sektor irgendwie handhabbar zu gestalten: Am Beispiel des online und stationär stattfindenden Handels wird gerade sehr gut sichtbar, dass diese zwei unterschiedlichen Welten stärker und besser verknüpft werden müssen. Dabei geht es nicht länger nur um die Technik, Gesetze und Abläufe – es geht um die Frage, in was für Städten, Gemeinden und Dörfern wir real und digital leben wollen. Das gilt gleichermaßen auch bei der Digitalisierung des Staates: In was für einem Staat wollen wir leben? Natürlich ist das OZG selbst aus einem kritischen Blickwinkel zumindest unterm Strich noch ein guter erster Aufschlag – aber wir müssen dieses Momentum jetzt nutzen, um das Thema neu zu denken und vor allem auch weiterzudenken. Denn die Digitalisierung von Verwaltungsprozessen ist wahrlich nicht neu, das betreiben wir ja nun doch schon seit mehreren Jahrzehnten.

Dafür, dass nun noch mal drei weitere Milliarden Euro in das System gekommen sind, sehen wir nach meiner Wahrnehmung einfach noch zu wenige gute Ideen und kaum konkrete Ergebnisse, die den Bürgern und Bürgerinnen dienen. Der Begriff des Dienstleisters scheint völlig auf der Strecke geblieben zu sein! Wir kämpfen an viele Fronten mit immer wieder den gleichen Problemen und lösen sie dann auf unterschiedliche Weise, wie beispielsweise erst wieder an den Servicekonten deutlich wurde. Das von mir kritisch hinterfragte EfA-Prinzip löst zum Beispiel genau dieses Problem nicht! Nach meiner Wahrnehmung ist das EfA-Prinzip bisher nicht mehr als ein schwieriger und kunstvoller Versuch, außerhalb der Marktwirtschaft Synergien zu nutzen. Wenn ein Land etwas entwickelt und die anderen Länder eine Nachnutzung prüfen, dann ist absehbar, was passiert: Die eine Hälfte der Länder nutzt, nach langer teurer Prüfung, etwas, was mehr schlecht als recht passt (weil es nicht für die spezifischen Bedürfnisse entwickelt wurde), und die andere Hälfte der Länder macht dann gleich etwas Eigenes.

Meine Vision ist, dass der Staat in komplexen Prozessen wie beispielsweise Baugenehmigungen sich unabhängig von der Technologie seiner Rolle neu bewusst wird. Statt einzelne Leistungen zu digitalisieren, müssen wir in Wertschöpfungsketten denken. Der Staat muss die Akteure zusammenbringen, in Lebenszyklen denken und die Rahmenbedingungen für sinnstiftendes Agieren setzen. Ich bin in diesem Kontext überzeugt von den Mechanismen der öffentlichen Vergabe – und würde mir wünschen, dass wir das Vergaberecht noch deutlich konsequenter zur Belebung des digitalen Wettbewerbs einsetzen. Die öffentliche Vergabe ist essenziell dafür, dass sich die öffentliche Verwaltung in diesem Themenfeld schnell weiterentwickeln kann. Nur ganzheitliche Ansätze schützen uns am Ende vor Sackgassen, in denen wir unsere bisherigen Lösungen nicht mehr weiterentwickeln können. Hier muss die öffentliche Verwaltung sich der ihr zur Verfügung stehenden Instrumente einer Demokratie bedienen; denn Software ist im Ergebnis eine Diktatur, der man kaum entkommen kann.

Foto von Thorsten Bullerdiek

Thorsten Bullerdiek, Sprecher des Niedersächsischen Städte- und Gemeindebundes ist Autor der ersten Fachbücher zur Einführung des Internet (u.a. Verwaltung im Internet, 1997 und 2002, Verlag C.H. Beck, München). Er ist Mitglied im IT-Planungsrat Niedersachsen und im Steuerungskreis Digitale Verwaltung.

Thorsten Bullerdiek
Sprecher
Niedersächsischer Städte- und Gemeindebund

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