Interview

Frank Schiersner

Welche Erfahrungen haben Sie als Mensch mit körperlichen Einschränkungen im Innenministerium Brandenburg im Rahmen der fortschreitenden Digitalisierung gesammelt?

An dieser Stelle müssen aus meiner Sicht zwei Perspektiven differenziert werden: Einerseits meine konkreten Erfahrungen in einer obersten Landesbehörde und andererseits die generellen Prozesse im Kontext der Digitalisierung. Den ersten Aspekt bewerte ich – auch nach vielen Gesprächen mit anderen Betroffenen – sehr positiv: Im konkreten Einzelfall gelingt es sehr gut, die jeweiligen Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen zu berücksichtigen, beispielsweise, wenn es um die individuelle Ausstattung des Arbeitsplatzes geht.

Als Buzzword ist Barrierefreiheit in deutschen Verwaltungen inzwischen durchaus präsent.

Frank Schiersner
Empfehlungen für die Praxis

Bei der Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung vermisse ich jedoch nach wie vor das grundsätzliche Verständnis für den Gesamtkomplex Barrierefreiheit. Nach meiner Beobachtung zieht sich dieses fehlende Bewusstsein durch alle Ebenen der öffentlichen Verwaltung. Die für mich entscheidende Frage ist dabei: Wie gehen Behörden mit dem Themenfeld um, wenn es um die Nutzung der Software durch zukünftige, zum Zeitpunkt der Entwicklung noch nicht näher bekannte, Nutzende geht? Barrierefreie Fachanwendungen sind immer auch in die Zukunft gerichtet: Sie sind die Voraussetzung für eine bessere Teilhabe; für die Einstellung von mehr Menschen mit körperlichen, kognitiven und psychischen Einschränkungen. In Brandenburg berücksichtigen wir beispielsweise bei der eAkte sehr stark die Bedürfnisse blinder Menschen, weil wir einen blinden Kollegen beschäftigen. Berücksichtigt werden bei der Digitalisierung nach meinem Empfinden also insbesondere Behinderungen, mit denen die Verwaltung aus eigenem Erleben vertraut ist. Hier muss deutlich mehr Expertise aufgebaut werden; insbesondere in Bezug auf die unterschiedlichen Ausprägungen von Einschränkungen. Nur wenigen in der öffentlichen Verwaltung ist beispielsweise bewusst, dass gehörlose Menschen eigene Anforderungen an die Schriftsprache und visuelle Interfaces haben. Wer hat im Blick, dass bei motorischen Einschränkungen bestimmte Eingabegeräte nicht nutzbar sind? Wem ist bewusst, dass es unterschiedliche Farbfehlsichtigkeiten gibt?

Ich möchte klarstellen: Als Buzzword ist Barrierefreiheit in deutschen Verwaltungen inzwischen durchaus präsent. Dennoch spielt das Thema nach meiner Wahrnehmung in der klassischen Verwaltungsausbildung derzeit noch kaum eine Rolle. Dabei gibt es neben dem fehlenden Fachwissen noch die weit verbreitete Fehleinschätzung über den tatsächlichen Bedarf: Der Anteil von Menschen, die auf barrierefreie Angebote angewiesen sind, ist deutlich höher als die 9,3 Prozent der Bevölkerung, die offiziell als schwerbehindert gelten. Menschen leben mit einer Vielzahl von einschränkenden Erkrankungen, ohne dass sie deshalb als körperbehindert angesehen werden. Gicht ist ein Beispiel, Kurzsichtigkeit ein weiteres. Der Anteil derer, die von barrierefreier Informationstechnologie profitieren, umfasst daher nach meiner Überzeugung sogar die Mehrheit der Bevölkerung.

Meine Hoffnung ist, dass wir die Vielschichtigkeit von Behinderungen im Zuge eines intensiven Diskurses in der öffentlichen Verwaltung noch besser verstehen lernen. Leider können Schranken im Kopf bereits entstehen, wenn wir für die symbolische Repräsentation des Themenkomplexes Barrierefreiheit stets nur Icons mit Rollstuhlfahrenden verwenden. Das mittlerweile entwickelte dynamischere Icon war überfällig, löst aber nur einen kleinen Teil des Problems. Denn die physische Dimension ist zweifelsfrei eine sehr wichtige – aber eben nicht die einzige. Für die Zukunft wünsche ich mir, dass wir im User Experience und Service Design in die umgekehrte Richtung denken: Statt die Technologien für eine barrierefreie Nutzung kompensatorisch zu erweitern, sollten vorhandene Fähigkeiten eine größere Rolle im Designprozess spielen – die Frage Welche Fähigkeiten sind für die erfolgreiche Nutzung dieser Technologie mindestens notwendig ist von zentraler Bedeutung. Denn je geringer die Anforderungen an die Fähigkeiten der Nutzenden ausfallen, umso weniger müssen wir uns im zweiten Schritt überhaupt mit Kompensationstechniken beschäftigen. Im Moment dominiert im Designprozess die Idee der durch Personas repräsentierten prototypischen Menschen noch viel zu sehr unsere Diskussionen. Aus meiner Sicht ist diese Vorspiegelung von Normalität jedoch eine Illusion, wenn es um die Anforderungen an eine barrierefreie Nutzung geht.

Foto von Frank Schiersner

Frank Schiersner (M.A.) ist Referent für E-Government in der Landesverwaltung Brandenburg. Zwei Jahrzente lang leitete er die Webredaktion des Ministeriums. In dieser Zeit entstand auch der Bürgerservice Maerker.Brandenburg.de.

Frank Schiersner
E-Government Referent
Ministerium des Innern und für Kommunales des Landes Brandenburg

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