Interview

Livia Böhme und Sergio Lerena Robles

Welche besonderen Herausforderungen gibt es bei der Digitalisierung von komplexen Prozessen mithilfe der Methoden des User Experience und Service Designs – und wie lassen sich diese in der Praxis bewältigen?

Das Themenfeld Usability und User Experience (UUX) ist im Public Sector besonders spannend; die digitalen Lösungen der öffentlichen Verwaltung müssen stets die gesamte Bandbreite der Gesellschaft abdecken. Mit derart diversen und heterogenen Zielgruppen haben es UUX-Professionals in anderen Bereichen eher selten zu tun. Die hohe Komplexität der Themen wird beispielsweise anhand des Steuerrechts deutlich; die Verständlichkeit der elektronischen Steuerformulare ist eine große Herausforderung. UUX-Expert*innen müssen hier immer zwischen einer einfachen Verständlichkeit der Texte und der juristischen korrekten Beschreibung der Sachverhalte abwägen. Wenn hier beide Perspektiven berücksichtigt werden sollen, führt das nicht selten zu einer redundanten Darstellung, die dann wiederum in der Praxis zu einem höheren Pflegeaufwand führt.

Denn in der digitalen Umsetzung liegt die große Chance, die Prozesse einfacher, effektiver und effizienter zu machen.

Livia Böhme und Sergio Lerena Robles
Empfehlungen für die Praxis

Bis vor wenigen Jahren galt in Behörden noch die Maxime, dass Online-Formulare aus Gründen der Wiedererkennbarkeit so gut wie möglich das entsprechende Papierformular abbilden sollten. Von dieser Sichtweise sind die Behörden inzwischen abgekommen – aus Sicht der User Experience war das eine richtige und dringend notwendige Entscheidung. Denn in der digitalen Umsetzung liegt die große Chance, die Prozesse einfacher, effektiver und effizienter zu machen. Nur wenn wir die Vorteile des Digitalen ausschöpfen, rechtfertigt sich der in die digitale Transformation investierte Aufwand. Bei der Gestaltung digitaler Formulare gilt es, Grundsätzliches zu überdenken und zu hinterfragen: Welche Fragen sind in dem konkreten, individuellen Fall überhaupt notwendig? Wie können die Inhalte bestmöglich strukturiert werden? Wie können die Bürger*innen durch den Prozess geleitet werden?

Es gibt dabei in der Praxis einen sehr wirkungsvollen Hebel, um die Verantwortlichen in den Behörden für all diese Fragen zu sensibilisieren: Den Usability-Test. Besonders effektiv ist dieses Instrument, wenn die Verantwortlichen direkt als Beobachter*innen an den einzelnen Tests teilnehmen. Die Konfrontation mit den Rückfragen der Benutzer*innen setzt häufig den Grundstein für ein Umdenken. Dabei fällt uns auf: Das direkte Feedback der Benutzer*innen genießt häufig einen höheren Stellenwert als die Bewertung seitens der Expert*innen. Darum ist der Einsatz von Personas auch so wirkungsvoll – wenn wir unterschiedliche Bedürfnisse in Form dieser Personas konkretisieren, können wir diese breite Zielgruppe bestmöglich im Blick behalten. Am Ende gelangen wir trotz dieser Differenzierung dann zu einer Lösung für alle, die all die unterschiedlichen Bedürfnisse berücksichtigt.

Neben der Verankerung der Benutzer*innenbedürfnisse in den Prozess hat sich noch ein zweiter Baustein für uns als besonders elementar erwiesen: UUX-Expert*innen sollten in Projekten für die öffentliche Verwaltung ihren Blick nicht zu stark auf den großen Wurf verengen. Aufgrund der komplexen Änderungsprozesse in großen Portalen besteht eine erfolgreiche UUX-Strategie häufig aus einer Abfolge von kleineren, iterativen Verbesserungen. Beispielsweise die im Rahmen von kontextuellen Interviews identifizierten Schmerzpunkte lassen sich gut für Verbesserungen nutzen; aus der Beobachtung der Benutzer*innen in ihrer natürlichen Umgebung lassen sich mit vergleichsweise geringem Aufwand viele Ansatzpunkte für unterschiedliche Zugangswege und notwendige technische Voraussetzungen ableiten.

Meine Vision ist, dass wir durch die vielen, erfolgreichen Projekte auch ein grundlegendes Umdenken in der öffentlichen Verwaltung in Gang setzen können. Wenn sich die User Experience der Steuerformulare verbessern soll, dann müssen die Herausforderungen aus der Digitalisierung auch in eine Vereinfachung des Steuerrechts einfließen. Wenn Bürger*innen eine optimale User Experience erhalten sollen, dann werden in diesem Zusammenhang auch stets die gesetzlichen Rahmenbedingungen neu ausgelotet: Wobei handelt es sich noch um eine erlaubte Verschlankung des digitalen Prozesses – und wo beginnt bereits eine (unerlaubte) digitale Beratung? Die Verwaltung muss mithilfe von UUX-Expert*innen Lösungen entwickeln, bei denen die Komplexität des Gesamtproblems (beispielsweise dem Steuerrecht) nicht zu einer hohen Komplexität des Einzelfalls (beispielsweise der Steuererklärung) führt.

Foto von Livia Böhme

Frau Böhme und Ihr Team aus UI/UX-Expert*innen entwickelt das Designsystem A12 Plasma – ein geräteunabhängiges und erweiterbares Design- und Interaktionskonzept. Für sie ist es ein beglückendes Gefühl, wenn Proband*innen in Usability-Tests komplexe Sachverhalte einfach und schnell lösen.

Livia Böhme
Teamleiterin UI/UX
mgm technology partners GmbH

Foto von Sergio Lerena Robles

Seit Jahren verantwortlich für die Entwicklung von hochskalierbaren, sicheren und robusten Geschäftsanwendungen im öffentlichen Bereich. Ein wichtiger Aspekt dieser Arbeit ist die konsistente Gestaltung effizienter Benutzeroberflächen.

Sergio Lerena Robles
Mitglied der Geschäftsleitung
mgm technology partners GmbH

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