Welche Erfahrungen konnte capgemini bei der Verknüpfung der beiden Themenfelder UUX und Barrierefreiheit im öffentlichen Sektor bisher sammeln?
Der naive Ansatz im öffentlichen Sektor lautet nach meiner Wahrnehmung: Wir nehmen das Thema Barrierefreiheit als Behörde in unseren nicht funktionalen Anforderungen mit auf, und das muss dann seitens der Dienstleister vor der Abnahme getestet und eine entsprechende Bescheinigung vorgelegt werden. Alle Ansätze, bei denen am Ende noch schnell alles barrierefrei gemacht werden muss, sind zum Scheitern verurteilt. Kompromisse oder das Verschieben von offenen Punkten auf einen späteren Zeitpunkt führen dazu, dass Behörden im Ergebnis nicht eine vollständig barrierefreie Anwendung einführen.
Gute Gebrauchstauglichkeit und Barrierefreiheit sind also auch immer eine Konsequenz von gutem Projektmanagement.
Nico MaikowskiGute Gebrauchstauglichkeit und Barrierefreiheit sind also auch immer eine Konsequenz von gutem Projektmanagement. Wenn ich diese Anforderungen bereits von Anfang an berücksichtige, dann kann ich viele der typischen Probleme schon im Vorfeld vermeiden. Viele Akteure im öffentlichen Sektor denken bei den nicht funktionalen Anforderungen zunächst einmal an Ausfallsicherheit und Datenschutz – und dann kommt erst einmal lange nichts. Das ist eine sehr technische Sicht auf eine behördliche Fachanwendung. Wir müssen das Thema Usability (inkl. Barrierefreiheit) daher häufig aktiv selbst einbringen.
Im Moment beobachten wir in den Ausschreibungen des öffentlichen Sektors hier zudem eine große Heterogenität. Gute Ausschreibungen stellen den Dienstleistern konkrete Aufgaben. Statt nur nach Barrierefreiheit zu fragen, sind Erläuterungen des Wie dabei besonders wirkungsvoll: Wie wollen Sie gute Barrierefreiheit erreichen? Wenn Behörden von Dienstleistern im Rahmen der Ausschreibungen hier ein konkretes Konzept einfordern, erhalten die Dienstleister dadurch die Chance, sich entsprechend zu differenzieren. Denn in Bezug auf viele anderen Aspekte – insbesondere die funktionalen Anforderungen – führen öffentliche Ausschreibungen zu Recht ähnlichen Antworten der Dienstleister, und die Softwarearchitekturen sind am Ende gar nicht so unterschiedlich. Auch wenn die Barrierefreiheit also beispielsweise nur 5 Prozent der Gesamtbewertung ausmacht, so ist das für uns dennoch ein wichtiges Differenzierungsmerkmal. Barrierefreiheit ist nur dann teuer, wenn nachträglich noch eine Vielzahl von Aktivitäten erforderlich ist.
Das Themenfeld Usability müssen wir hier stellenweise noch klarer motivieren. Viele Behörden sind leider nach wie vor der Ansicht, dass man die Menschen zwar einbinden kann, aber es auch genauso gut sein lassen kann – denn diese müssen ja gezwungenermaßen ohnehin mit der Software arbeiten. Manchmal gelingt es uns daher im Moment leider noch nicht, bereits in der Planung der Projekte dafür ein entsprechendes Budget zu hinterlegen. Im weiteren Verlauf der Projekte wird das Thema aber an vielen Stellen relevant. Hier ist es unser Selbstverständnis als Dienstleister der öffentlichen Hand, bestimmte Ideen, Konzepte, Ansätze und Fachkonzepte kritisch zu hinterfragen – das gelingt häufig am besten, indem wir Behörden einfach den Spiegel vorhalten: Warum erledigen wir die Prozesse an bestimmten Stellen so ineffizient? Lässt sich dieser Zusatzaufwand hier nicht vermeiden? Sind diese Inkonsistenzen nicht potenzielle Fehlerquellen? Unsere besten Verbündeten bei all diesen Aspekten sind dabei häufig die Kollegen und Kolleginnen aus der Qualitätssicherung.
Meine Vision ist, dass wir uns im Themenfeld Gebrauchstauglichkeit und Barrierefreiheit noch stärker von dem Ich-weiß-doch-was-wir-brauchen lösen und die jeweiligen Benutzer*innen noch intensiver und regelmäßiger einbinden. Denn diese sind sehr dankbar, wenn ihre Perspektiven von uns in wertschätzender Weise bei der praktischen Ausgestaltung der Systeme entsprechende Berücksichtigung finden. Die Digitalisierung führt im öffentlichen Sektor nicht nur zu einer technologischen Veränderung – auch die Erwartungshaltung, beispielsweise in Bezug auf Antwortzeiten, wird sich dadurch signifikant verändern. Durch bessere Software wird auch das Spektrum der einzelnen Mitarbeiter*innen breiter; gute behördliche Fachanwendungen machen es möglich, dass Mitarbeiter*innen universeller und flexibler den Bürger*innen die bestmöglichen Dienstleistungen zur Verfügung stellen.
Nico Maikowski ist als User Experience Experte seit 2018 bei Capgemini tätig und zuvor in gleicher Rolle bei der Bundesagentur für Arbeit. Als Lead im Team wird schrittweise User Experience im Public Sector etabliert. Hierzu gehört z.B. ein barrierefreies Design System zur einheitlichen Gestaltung.
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